Vorbemerkung:
Von der BAG-Bundestagung traf ein Bericht ein von Corinna (Pforzheim) ein, in dem sie unter anderem über das Forum Partizipation stärkt, schützt und ermächtigt – Forschungsergebnisse einer empirischen Studie mit wohnungslosen und ehemals wohnungslosen Frauen berichtet.
Zu diesem Bericht gibt es eine ergänzende Erläuterung von Prof. Dr. Beate Blank (Villingen-Schwenningen).
Abschließend ergänzt Markus (Frankfurt am Main) mit einigen Hinweisen.
Die Selbstvertretung wohnungsloser Menschen war zudem noch mit einem eigenen Infostand auf der Bundestagung vertreten.
Corinna (Pforzheim) berichtet:
Alles rund ums Wohnen und Nicht-Wohnen – Für eine Nationale Strategie zur Überwindung von Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit
Bundestagung der BAG Wohnungslosenhilfe e. V. 2019 - Tag 3 (13. November)
Vom 11. bis 13. November 2019 fand in Berlin die Bundestagung 2019 der BAG Wohnungslosenhilfe e. V. statt. Corinna und Ilse waren als Referentinnen im Rahmen des Vortrags „Partizipation stärkt, schützt und ermächtigt“ für die Selbstvertretung wohnungsloser Menschen eingeladen.
Den Vortrag „Partizipation stärkt, schützt und ermächtigt – Forschungsergebnisse einer empirischen Studie mit wohnungslosen und ehemals wohnungslosen Frauen hielt Prof. Dr. Beate Blank von der Hochschule Villingen-Schwenningen. Ilse und Corinna sollten dazu eine Stellungnahme abgeben.
Ilse hat darüber berichtet wie sie in die Wohnungslosigkeit geriet und was die Notfallhilfe Köln wohnungslosen Menschen anbietet. Gleich zu Beginn der Wohnungslosigkeit wurde ihr eine Arbeit zugeteilt. Dabei ist die Arbeit die wohnungslose Menschen verrichten egal - Hauptsache man hat eine Tagesstruktur. Jeder Wohnungslose bekam seinerzeit pro Woche 40 DM auf die Hand. Es wurde auch kein Unterschied gemacht zwischen Männlein und Weiblein.
Corinna hat in diesem Rahmen die Selbstvertretung wohnungsloser Menschen vorgestellt und erläutert wie wir arbeiten und mit wem.
Nachdem ich meinen Vortrag beendet habe war Totenstille im Raum. Erst als Beate Blank noch einmal zu einer kurzen Diskussion die anwesenden 36 Personen aufforderte meldeten sich zwei Zuhörer. Ein Mitarbeiter der Erlacher Höhe Freudenstadt bewertete meinen Vortrag sehr kritisch: „Auch wenn wir wohnungslos waren, dann treten wir als Selbstvertretung schon sehr selbstbewusst und professionell auf. Wir könnten schon als Sozialarbeiter arbeiten, wir haben bereits das Expertenwissen und können die Fachsprache.“ Corinna entgegnete darauf dass sie ohne Studium keine Chance habe und auch schon diesbezüglich nachgefragt habe. Einige Teilnehmer aus den Einrichtungen waren darüber sehr froh. „Wir würden möglicherweise das bestehende System sprengen.“ Ein weiterer Kommentar von Seiten der Erlacher Höhe unterstellte „dass wir uns den Beruf ausgesucht haben wohnungslos zu sein, damit wir auf jede Veranstaltung fahren können und nicht mehr arbeiten müssen.
Auf den Vortrag von Beate Blank wurde in dieser Diskussion nicht mehr eingegangen.
Weiteres Programm der Bundestagung
Im Anschluss an den Vortrag von Beate Blank sprach der Bürgermeister Bezirk Mitte Stephan von Dassel über die kommunale Wohnungspolitik in Berlin. Er hob in seiner Rede hervor, dass Berlin sehr viel daran gelegen ist die Wohnungslosigkeit einzudämmen und Wohnungslose entweder von der Straße zu holen oder wenigstens in das Hilfesystem zu integrieren. Leider klappt dies nicht immer oder gar nicht wie er an einem Beispiel schildert. „Ein frisch operierter im Rollstuhl sitzender Mann wurde aus der Klinik entlassen und wurde wohnungslos. Von Dassel bot ihm seine Hilfe an, damit er so schnell wie möglich eine neue Wohnung findet. Er übergab seine Visitenkarte und setzte seine Mitarbeiter unter Druck dass sie alles tun sollten um diesen Mann ins Hilfesystem zu integrieren. Leider klappte dies überhaupt nicht, weil der Mann Scham hatte Hilfe zu beanspruchen.“
In diesem Zusammenhang berichtete der Bürgermeister auch dass die Hilfe auf der Straße in Berlin intensiviert werden soll – insbesondere auch bei traumatisierten Menschen. Der Berliner Senat will in die Straßensozialarbeit investieren, mehr Streetworker einstellen und auch Streetworker mit psychiatrischer Ausbildung in die Brennpunkte schicken. Es soll auch eine Vernetzung geben.
Nachdem der Bürgermeister seinen Vortrag beendet hatte stürmte ein Teilnehmer aus Berlin auf die Bühne und bezichtigte ihn als Rassisten gegenüber Wohnungslosen. Er sei derjenige der die „Platten“ räumen lässt und Wohnungslose vertreibt. Von Dassel ging nicht mehr auf diese Vorwürfe ein und verwies auf eine Stellungnahme auf seiner Homepage.
Der nächste Referent war Andrej Holm. Er berichtete über die „Krisen in der sozialen Wohnraumversorgung“. Andrej erläuterte die Wohnraumsituation in Berlin und davon dass die Wohnung vielfach nur noch als Investitionsprodukt angesehen wird. Viele Vermieter setzen ihre Mieter unter Druck, stellen Wasser und Energieversorgung ab, schreiben fiktive Sanierungsvorhaben oder ähnliches. Bei solchen Ankündigungen und weiteren psychischen Schikanen bekommt ein Teil der Mieter Angst und suchen sich andere Wohnungen zu anderen Konditionen. Die neueste Masche der Vermietenden ist eine Kündigung der Wohnung wegen Bagatellen. So berichten Mieter dass sie eine Kündigung erhalten haben, weil sie angeblich unberechtigterweise Stühle auf den Balkon gestellt haben. Diese Mieter haben sich daraufhin bei einem Rechtsanwalt kundig gemacht und sich über die Rechtslage informiert. Der Rechtsanwalt meinte sie müssen nichts befürchten. Der Vermieter kann deshalb nicht kündigen.
„Es gibt auch einen ständigen Konflikt zwischen dem Wohnen als Zuhause und dem Wohnen als Immobilie“
Das reichste Land der EU hat 678.000 Wohnungslose. Es gibt genügend Wohnungen für alle. Sie sind nur falsch verteilt. Ein großer Teil ist in Privatbesitz und nicht gemeinnützig. Auf der anderen Seite wird ständig gebaut zu Quadratmeterpreisen die sich kaum noch der Durchschnittsverdiener leisten kann. Was nicht steigt ist der gemeinnützige Wohnungsbau Hier hat die Regierung bereits 1989 die gesetzliche Regelung der Gemeinnützigkeit aufgehoben. Es gibt zwar noch Bestandswohnungen mit Gemeinnützigkeit aber deren Belegungsbindung läuft aus und damit sind die Wohnungen der freien Marktwirtschaft preisgegeben. Der Vermieter kann mit seinen Wohnungen tun und lassen was er will.
Anders sieht es in Österreich aus, wie Andrej erläuterte. Hier freuen sich die Mieter auf das Ende der Mietpreisbindung. Danach werden die Mieten günstiger, weil das Haus abbezahlt ist.
„Die Wohnungsfrage ist die soziale Frage unserer Zeit“, bemerkte Horst Seehofer 2018. Andrej Holm überlegte kurz und meinte dies schon einmal gehört zu haben. Er recherchierte nach und konnte einen Bezug zu Friedrich Engels (1872) und Damaschke (1904) herstellen. Das heißt die Wohnungsfrage beschäftigt uns also nicht erst seit die EU Erweiterung nach Osten geöffnet ist oder Fluchtbewegungen nach Europa und Deutschland strömen, sondern seit mehr als 150 Jahren. Nur hatten die Regierungen seinerzeit nach Lösungen gesucht und umgesetzt. Unsere heutige Regierung ist weit davon entfernt Lösungen zu suchen oder umzusetzen. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Man will es auch nicht und wenn doch werden Vermietende oder Bauherren bevorzugt. So hat die Regierung vor einigen Jahren das Baukindergeld wieder eingeführt. Dies nutzt dem normalen Mieter nichts. Es sei denn er baut ein Haus und Kinder. Denn nur wer ein Eigenheim baut und Kinder hat profitiert davon.
Auch das Wohngeld nutzt den meisten Mietern nichts um sich Unterstützung vom Staat zu holen. Die Mietbelastung liegt in einer Höhe von 42,6 % des Einkommens, die durchschnittliche Leistbarkeit eines Einkommens bei 30 %. Zusätzliches Wohngeld bekommen bundesweit nur 160.000 Haushalte oder 1,2 % der Haushalte in Deutschland.
Vor einem Jahr tagte der „Alternative Wohngipfel“ in Berlin. Hier haben sich verschiedene Akteure wie z. B. DGB, BAGW, Deutscher Mieterbund und weitere Initiativen zusammengetan um zu beraten wie man den Staat dazu bringen kann Wohnungen zu bauen. Es gab seitdem auch immer wieder verschiedene Aktionen. So hat man z. B. am 19. September eine Menschenkette gebildet um gegen den Mietenwahnsinn zu protestieren.
Stefan Körzell, DGB: „Viele Arbeitnehmer können sich heute bezahlbaren Wohnraum leisten. Deshalb hat man sich diesem Bündnis angeschlossen. Auf dem Wohngipfel gab man uns nur 90 Sekunden Zeit um über die Mietsituation zu reden. Deshalb hat man sich schon im Vorfeld zusammengesetzt und die Positionen dargelegt. Um Veränderungen durchzusetzen müssen wir uns verbünden und vernetzen. Damit können wir Druck von unten aufbauen.
Der Deutsche Mieterbund beteiligt sich seit neuesten auch an dem Bündnis. Man hat erst Überzeugungsarbeit beim Landesverband leisten müssen. Aber es ist ein erster Schritt um Kampagnenarbeit organisieren zu können. Auch sie plädieren dafür dass die Mieter laut werden müssen um Druck aufzubauen und Veränderungen in Gang zu bringen.
Die BAGW ist seit Jahren aktiv in Bündnisarbeit und macht immer wieder aufmerksam kleinere Schritte der Wohnungspolitik zu verändern.
Es sind nicht die großen Schritte die in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden, sondern die kleinen Aktionen wie z. B. eine Hausbesetzung, meinte auch Andrej Holm in seinem Schlussplädoyer. Unsere Mieten steigen ja nur um 1,2 % pro Jahr. Dies ist aus Sicht der Experten angeblich noch leistbar. Aber unsere Einkommensspirale macht dies nicht mehr mit. Deshalb wird auch immer wieder gekündigt und die Häuser verkauft.
Aus der Reihe der Teilnehmenden gab es deshalb den Vorschlag dass eine Kündigungssperrfrist für neue Vermieter von Wohnungen und Häusern gesetzlich eingeführt werden.Damit kann man Entmietungen entgegenwirken.
Verena Rosenke machte zum Schluss noch auf eine Veranstaltung im März aufmerksam: Am 29. März soll in Berlin wieder eine Großdemo zum Thema Wohnen stattfinden.
Beate Blank (Villingen-Schwenningen) erläutert dazu:
Nun schalte ich mich doch per Mail ein, obwohl mir bewusst ist, dass Mails kaum zur Klärung beitragen können. Aber ein Versuch ist es wert. Vielleicht kann ich Missverständnisse aufklären und vermeiden, dass einzelne Personen möglicherweise beschädigt werden. Dies wäre aus meiner Sicht völlig unbegründet und sicherlich von niemandem beabsichtigt. Herr Günther hat mich in seiner Mail an Herrn Sartorius angesprochen. Gerne will ich meine Wahrnehmung kurz darstellen.
Aus meiner Sicht vermischen sich einige Ebenen, die an dem Vormittag im Workshop direkt und indirekt angesprochen wurden. Da ist zunächst die Ebene der Reaktionen der Teilnehmenden auf die Selbstvertretung wohnungsloser oder ehemals wohnungsloser Frauen. Seit vielen Jahren beobachte ich die ambivalenten Reaktionen auf ihr selbstbewusstes Auftreten. Dies führt nicht selten zu mitunter sehr persönlichen Anfragen an die Referentinnen und dazu, dass sie sich für ihr zivilgesellschaftliches Engagement als (ehemals) wohnungslose Frau rechtfertigen müssen. Gleichzeitig frage ich mich, ob die Fragen an die männlichen Mitglieder der Selbstvertretung auch in dieser Art und Weise gestellt worden wären? Corinna Lenhart und Ilse Kramer wurden nicht nur von Herrn Günther persönlich angesprochen. Da waren einige kritische Anfragen mehr aus dem Publikum. Nach vielen vergleichbaren Situationen stelle ich ganz klar einen Gender-Unterschied in der Ansprache von (ehemals) Betroffenen fest, nehme aber auch wahr, dass dies dem Publikum nicht bewusst ist. Wie auch immer Ihre persönliche Antwort ausfiele und unabhängig von Gender-Aspekten haben sich die Teilnehmenden, nach anfänglichem Schweigen, sehr intensiv beteiligt. Dies ist ja das Ziel eines Workshops. Insgesamt ist dies auch ein persönlicher Erfolg für Corinna und Ilse. Sie haben klar gemacht was sie wollen und weshalb sie sich in der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen engagieren.
Die inhaltliche Ebene der Diskussion war m. E. sachlich und inspirierend. Einzelne Beiträge habe ich während der Veranstaltung unmittelbar kommentieren können. Beispielsweise die Frage nach kreativen Erprobungsräumen in den Einrichtungen oder nach Ermächtigungsstrategien von ehemals wohnungslosen Frauen für aktuell betroffene Frauen in einer Notunterkunft. Ohne die kritischen Anfragen der Teilnehmenden hätten wir diesen Erkenntnis- und Lernprozess nicht gemeinsam machen können.
Der Diskussion - gewissermaßen im Subtext unterlegt - war die Ebene der Partizipation in den Strukturen und dem Hilfesystem der Wohnungslosenhilfe. Die Frage der Alibipartizipation (Tokenism) habe ich im Rahmen meines Vortrages als eine Form der Nicht-Partizipation, so die Forschung, angesprochen. Auf der Ebene der strukturell noch nicht verwirklichten Partizipation ist der Grat zur Instrumentalisierung der Betroffenen schmal. Tagungen und Gremienarbeiten sind grundsätzlich anfällig für Alibi-Strukturen. Saul Alinsky spricht deshalb in Community Organizing von „der Macht der Vielen“ die es bedürfe, um mächtige Strukturen zu verändern und um gestärkt als Person daraus hervorzugehen. Nun ist aber eine BAG W Tagung nicht die Community der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen. Auch kann davon ausgegangen werden, dass Corinna und Ilse erfahrene Expertinnen sind, die wissen auf was sie sich einlassen, wenn sie sich auf ein Podium setzen. Trotzdem hoffe ich, dass sie in ihrer Peer Group gut unterstützt werden. Stefan Schneiders Bitte um Stellungnahme und Jürgen Schneiders Koordinationsangebot verstehe ich in diesem Sinne.
Sollte es weiteren Gesprächsbedarf geben, komme ich gerne nach Freudenstadt.
Markus (Frankfurt am Main) berichtet ergänzend:
BundesArbeitsGemeinschaft für Wohnungslosenhilfe ... 3-tägige Fachtagung zu Verarmung und Wohnungsnot ...
Auf der diesjährigen Bundestagung BAGW im Mercure Hotels Moa Berlin in Berlin waren nicht nur ca. 970 Teilnehmende aus ganz Deutschland, darunter viele im Sozialbereich Tätige - SozialarbeiterInnen - , sondern auf den Podien konnte man erstmals Vertreter von CDU und FDP begrüßen und sogar Kooperationsanfragen mit Vertretern von "Haus und Grund" diskutieren.
Am Montagvormittag, sogar schon Sonntagnachmittag, gab es Möglichkeit zu Projektbesuchen in Berlin vor Ort. Die Stadtmission in der Lehrter STraße informierte über das medizinische Angebot und deren Entwicklung in den letzten 5 bis 10 Jahren sowie das "Berliner Klientel". Aufgeworfen wurden auch Fragen, inwieweit SozialarbeiterInnen mit 2.400 Euro brutto für 30 Euro/Wochenstunden sich Mietwohnungen in Berlin leisten können. Ähnliches gilt vielleicht in München und Frankfurt, doch Bundesländer handhaben unterschiedlich. Und inwieweit Medizinstudenten oder Ärzte, die mit 24h-Schichten und Nachtdiensten hart rangenommen werden, sich zusätzlich ehrenamtlich für Obdachlose engagieren können.
Partizipation soll helfen, dass Armut und Obdachlose wieder zu Tagesstrukturen und sinnvollen integrativen Tätigkeiten kommen. Hier stellten sich das Dorf Freistatt bei Osnabrück und Herzogsägmühle bei München mit ihrem aktuellen Angebot und ihrer Geschichte vor. Zudem wurde auf der Mitgliederversammlung ein "Partizipations-Fonds" beschlossen, der zukünftig Teilnehmenden ermöglichen soll, an Events zu partizipieren und dabei mit Fahrt- und Unterkunftskosten und sonstigem Aufwand voll unterstützt zu werden.
Ein wissenschaftlicher Vortrag fragte, wer den prekär Lebende seien und unterschied drei Zonen, die gut Integrierten, die Präkaren und die Exkludierten, anhand von verschiedenen Daten und auch konkreten Fotos, vom Gruppenfoto der Bürokaufleute über die Wohnungssuchende in München bis zu den Obdachlosen unter der Brücke.