am Beispiel Wohnungslosentreffen Freistatt 2016 − Entwicklung und Ausblick
Intention
Die Idee „Sommercamp“ bzw. „Wohnungslosentreffen" (1) hat zum Ziel, wohnungslose und ehemals wohnungslose Menschen durch ein eigenständiges Projekt dabei zu unterstützen, Formen und Strukturen der Teilhabe und Selbsthilfe aufzubauen, weiter zu entwickeln und zu verbessern. Wohnungslose sollen langfristig dabei unterstützt werden, regionale und oder thematisch bezogene Gruppen aufzubauen und Netzwerke zu bilden. Diese Projektkonzeption ist zunächst, orientiert an den Grundsätzen der Projektförderung von Aktion Mensch, auf die Dauer von drei Jahren angelegt. Die jährlich geplanten einwöchigen Wohnungslosentreffen dienen dabei nicht als Selbstzweck, sondern als Plattform zur Interaktion und Meilensteine sowie als Bezugspunkte für die jeweiligen Schritte innerhalb des Prozesses. Die zur Anwendung kommenden Methoden entstammen im Wesentlichen aus den Handlungsansätzen der Gruppenarbeit, des Empowerment und des Community Organizing. Die Abfolge von drei großen Wohnungslosentreffen eröffnet im Unterschied zu einmaligen Veranstaltungen dieser Art eine strategische Perspektive. Das erste Treffen dient als Auftaktveranstaltung, um interessierte Menschen zu erreichen und mit ihnen die Projektidee zu kommunizieren. Auf dieser Basis ist es möglich, auf einem Folgetreffen das Selbstverständnis zu klären und erste Standpunkte zu formulieren. Ein drittes und im Verlauf des Projekts vorerst letztes Treffen müsste sich sehr maßgeblich mit den Aufgaben der Verstetigung zu befassen haben. Im Folgenden werden das Projekt, seine Hintergründe und seine Durchführung vorgestellt und ein kurzer Ausblick auf zukünftige Veranstaltungen dieser Art eröffnet.
Hintergründe
Teilhabe und Selbstorganisation wohnungsloser und ehemals wohnungsloser Menschen ist im weiteren Kontext der Wohnungslosenhilfe nichts Neues, aber seit einigen Jahren sind die Aktivitäten in dieser Richtung eher stagnierend, wenn nicht rückläufig, obwohl verstärkt zum Thema Partizipation diskutiert wird. Eine eigene und eigenständige Selbstvertretung wohnungsloser und ehemals wohnungsloser Menschen gab und gibt es, bis auf wenige Ansätze und Initiativen (z.B. Armutsnetzwerk e. V., Bundesbetroffeninitiative wohnungsloser Menschen (BBI) und Homeless People in Europe (HOPE)), nicht. Die Präsenz wohnungsloser Menschen auf den Tagungen der Wohnungslosenhilfe stellt eher keine tatsächliche Beteiligungsstruktur dar. Nicht zuletzt möglicherweise auch deshalb, weil sich die typischen Arbeitsformen und Inhalte einer Tagung, wie Fachvortrag, Podiumsdiskussion, Plenumsdiskussion, in erster Linie an ein sozialwissenschaftlich oder sozialarbeiterisch tätiges bzw. ausgebildetes Zielpublikum richten. Daraus ergibt sich die Frage, welche Formate aus der Sicht wohnungsloser Menschen attraktiv und geeignet sein könnten, Formen der Teilhabe un Selbstorganisation zu befördern und hervorzubringen.
Die Idee, mehrtätige Großgruppentreffen zu organisieren, zusammen zu leben, gemeinsam Zeit und Freizeit zu verbringen und in einem geschützten Rahmen inhaltlich zu arbeiten, hat mehrere Quellen. Sie kommt zum einen aus der Tradition der Jugendverbände, der Jugendarbeit und aus modernen Ansätzen der Gemeinwesenarbeit („Community Organizing“), aber auch in Politik, Wirtschaft und Kunst ist es nicht unüblich, sich zu Klausuren abseits des Arbeitsalltages zurückzuziehen und jenseits des Alltagsgeschäftes grundsätzliche Angelegenheiten zu erörtern.
Weiterhin gab es in der Geschichte der Wohnungslosigkeit einige wenige große, mehrtägige Versammlungen wohnungsloser Menschen. Erinnert sei an den Vagabundenkongress 1929 in Stuttgart, an das Berbertreffen 1981 in Stuttgart sowie an den Kongress der Kunden und Vagabunden, Obdach- und Besitzlosen 1991 in Uelzen, die als Referenz dienen können. Es waren jeweils spezifische Konstellationen, die zu diesen Treffen führten. Obwohl sie Einzelereignisse blieben, entfaltete jedes dieser Treffen eine Wirkung, die noch nicht genauer beschrieben werden kann. Während die genannten Treffen jeweils Einzelereignisse waren, stehen die drei geplanten Wohnungslosentreffen in Bezug zueinander und ggf. kann allein das Wissen um ein Nachfolgetreffen Prozesse auslösen und Anknüpfungspunkte schaffen, auf die bei Nachfolgetreffen Bezug genommen werden kann.
Wohnungslose und ehemals wohnungslose Menschen sind keine einheitliche Gruppe. Wohnungslosigkeit ist eine extreme Form von Armut und Ausgrenzung. Es existieren vielfältige und differenzierte Hilfeangebote, dennoch können diese Wohnungslosigkeit und Armut und die damit verbundenen Probleme häufig nicht beseitigen. Wohnungslose werden oftmals zu Empfängern von Almosen degradiert. Die Wohnungslosenhilfe betätigt sich oftmals als Lobby, die für die Wohnungslosen spricht.
Grundlage für das Projekt ist die Überzeugung, dass wohnungslose und ehemals wohnungslose Menschen sich sehr viel authentischer und glaubwürdiger für eigene Interessen und Belange einsetzen können, beispielsweise als Lobbyist_innen. Wohnungslose Menschen haben nicht nur Probleme und Defizite, sondern auch Kompetenzen und Stärken und wollen und können ihre Lobbyarbeit selbst organisieren.
Das waren einige der Überlegungen im Zuge der Vorbereitung. Wohnungslose Menschen verfügen naturgemäß nicht über Mittel, die sie zur Organisation und Durchführung eines Wohnungslosentreffens einsetzen können. Also wurde eine Projektförderung auf den Weg gebracht. Letztlich ist das Projekt Förderung von Teilhabe und Selbstorganisation wohnungsloser Menschen in Niedersachsen (Empowerment, Community Organizing, Sommercamps, Verstetigung) – so der offizielle Antragstitel − gemeinsam von Bethel im Norden, Fachbereich Wohnungslosenhilfe am Standort Freistatt (Frank Kruse), dem Diakonischen Werk Niedersachsen (Dr. Peter Szynka), dem Armutsnetzwerk (Jürgen Schneider) und einem Berliner Sozialwissenschafter (Dr. Stefan Schneider) entwickelt worden, um mit neuen Methoden Teilhabe und Selbstorganisation Wohnungsloser und ehemals Wohnungsloser voranzubringen. Vorab in die Projektvorbereitung und Planung des ersten Treffens waren eingebunden die Gruppen Armutsnetzwerk e. V. Sowie das Europäische Netzwerk wohnungsloser Menschen HOPE.
Bethel im Norden als Antragsteller bei der Aktion Mensch ist ein Stiftungsbereich der Stiftung Bethel in den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel. Im Mittelpunkt der Aufgaben steht die menschliche und fachliche Hilfe für kranke, behinderte und sozial benachteiligte Menschen. Die Wohnungslosenhilfe in Freistatt hilft Menschen, die sich in besonderen Lebenslagen, verbunden mit sozialen Schwierigkeiten, befinden. Die Problemlagen sind individuell und oft komplex. Aufgabe der Wohnungslosenhilfe ist es, die sozialen Schwierigkeiten bewusst zu machen, zu mildern, zu beseitigen oder eine Verschlimmerung zu verhüten.
Finanzierung und Projektbeginn
Für das Vorhaben wurde im Dezember 2015 ein Antrag auf Förderung gestellt. Für die Co-Finanzierung wurden Mittel vom Land Niedersachsen sowie beim Diakonischen Werk Niedersachsen beantragt. Eigenmittel waren von der Stiftung Bethel einzubringen. Verzögerungen bei der Antragsbearbeitung führten dazu, dass eine Genehmigung für einen vorzeitigen Projektbeginn eingeholt werden musste. In der Folge war die Zeit bis zur Projektbewilligung durch Eigenmittel der Stiftung Bethel und einer Zuwendung des Diakonischen Werkes in Niedersachsen zu überbrücken. Eine weitere Folge war, dass der Zeitplan erheblich gestaucht wurde.
Vorbereitung und Mobilisierung
Die Vorbereitungszeit war prall gefüllt mit dem Abschluss von Arbeitsverträgen, der Einrichtung einer Homepage www.wohnungslosentreffen.de sowie weiterer Seiten auf Facebook, Twitter und Youtube, der Entwicklung des Slogans „Alles verändert sich, wenn wir es verändern! − Armut, Wohnungsnot, Ausgrenzung und Einsamkeit sind keine Naturgesetze“, der Erstellung von Printmaterialien, um das Projekt zu bewerben, der Planung der Mobilisierung von potentiellen Teilnehmenden, der Erarbeitung von Regeln, die auf dem Camp gelten sollten, der Programmplanung, der Akquise von Helfenden & Referent_innen und weiteren Dingen (Zelte, Schlafsäcke, Essen, Bühne etc.) der praktischen Vorbereitung.
Entsprechend des Konzeptes wurde während der Phase der Mobilisierung kommuniziert, dass die Teilnahme am Wohnungslosentreffen Freistatt 2016 keine Teilnehmerkosten verursacht und dass Reisekosten bezuschusst bzw. übernommen werden können. Hintergrund dieser konzeptionellen Entscheidung war die Einschätzung, dass wohnungslose Menschen häufig mittellos bzw. extrem arm sind und dass das Aufbringen von Fahrkosten bzw. die Erhebung von Teilnahmekosten eine Hürde darstellen würde, die sehr viele von einer Teilnahme abhalten würde. Allein schon die Vorfinanzierung der Fahrtkosten wurde als Problem eingeschätzt, sodass wir die Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe und andere Anlaufstellen explizit darum baten, an dem Treffen interessierte Menschen dabei zu unterstützen und ggf. die Fahrkarte vorzufinanzieren.
Wochen- und Tagesstruktur
Die Frage, wie lange die Wohnungslosentreffen dauern sollten, floss in die Konzeptentwicklung ein. Die Erfahrung von Konferenzen und Tagungen, die in der Regel auf wenige Tage beschränkt waren, zeigten, dass diese knappe Zeit für ein intensives Kennenlernen nicht ausreicht. In den ersten Diskussionen war von zehn Tagen die Rede, schließlich wurde eine Einigung auf eine Woche erzielt. Wie jedes längere Zusammensein einer Gruppe, ist auch das Wohnungslosentreffen von einer spezifischen Dynamik geprägt: Nach der Anreise besteht zunächst ein Bedürfnis nach Orientierung und dem Kennenlernen der anderen. Auf dieser Grundlage entstehen erste Strukturen der Kommunikation und eine Praxis des gemeinschaftlichen Arrangements. Nach der Aufregung folgt der „Koller“. Alles wird zu viel, ein Bedürfnis nach Ruhe und Ausgleich breitet sich aus und der Wunsch, Abstand zu gewinnen. Was wäre, wenn ich nicht hier wäre? Muss ich das alles hinnehmen, was ich hier erlebe? Die dritte und letzte Phase ist schon auf das Ende hin orientiert. In wenigen Tagen werde ich wieder in gewohnten Kontexten sein. Die bisher vergangene Zeit wird positiv bewertet, Konflikte wurden erfolgreich gelöst, Kontakte und Beziehungen sind entstanden, die neue Situation stellt sich als vertrautes Muster dar und das bevorstehende Ende der schönen Zeit wirkt plötzlich euphorisierend auf die meisten.
Dieses nahezu typische gruppendynamische Muster wurde bei der Wochenplanung weitgehend berücksichtigt. Nach der Begrüßung am Anreisetag waren die Veranstaltungen der ersten Tage darauf orientiert, in Themen und Debatten hinein zu führen. Der Mittwoch wurde bewusst als Pausentag mit Sport und Freizeitangeboten geplant (auch wenn das nicht durchgehalten werden konnte), und am Donnerstag und Freitag waren teilweise öffentliche, teilweise interne Versammlungen der Kooperationspartner Armutsnetzwerk e. V. und HOPE avisiert. Der Freitagnachmittag stand im Zeichen der Erarbeitung einer gemeinsamen Abschlusserklärung, die am folgenden Tag final abgestimmt und dann der Öffentlichkeit bekannt gemacht wurde. Eine Runde zu Perspektiven der Weiterarbeit bestimmte dann den letzten Nachmittag vor dem Abschlussfest am Samstagabend. Eine Andacht am Abreisetag stellte den Abschluss dar.
Die Struktur der einzelnen Tage wurde im Wesentlichen durch die Mahlzeiten bestimmt. Arbeitseinheiten fanden entweder am Vormittag, am Nachmittag oder nach dem Abendessen ab 20 Uhr statt. Aufgrund der Fülle der Programmpunkte gab es zum Teil Parallelveranstaltungen.
Programmstruktur
Insgesamt wurden während des Wohnungslosentreffens 2016 in Freistatt dreiunddreißig Programmpunkte an acht Tagen angeboten. Da am Anreise- und am Abreisetag jeweils nur eine Veranstaltung stattfand (Eröffnung bzw. Abschlussandacht), wurden jeden Tag durchschnittlich mehr als fünf Programmpunkte angeboten. Bei den Programmpunkten wurde inhaltlich nicht unterschieden zwischen Angeboten, die klassischen Freizeitcharakter hatten (Moorbahnfahrt, Fussballspiel bzw. -turnier) und thematischen Punkten.
Neben der Eröffnung und Begrüßung war die Geschichte der Wohnungslosentreffen Thema, die Berber-App, Hartz IV, Workshops zu Sucht und Suchtselbsthilfe sowie Interessen erkennen und artikulieren, eine Bibelarbeit zu Armut, das Thema Tafeln im gesellschaftspolitischen Kontext, Gewalterfahrungen, Geschichte der Heimerziehung und Umgang mit Institutionen und Behörden. Es wurde ein Dialog der Vorbereitungsgruppe mit den Teilnehmenden organisiert und eine Pressegruppe hatte sich konstituiert und eigene Arbeitsformen gefunden. Außerdem fanden die Mitgliederversammlungen von HOPE und dem Armutsnetzwerk statt. Die Kooperationspartner stellten Beteiligungsstrukturen vor und erläuterten Modellvorhaben. Programmpunkte wie die Vorbereitung einer Abschlusserklärung, die Vorbereitung einer Andacht, sowie der Workshop zur Erarbeitung von Ideen und Perspektiven nach dem Wohnungslosentreffen hatten einen bewusst ergebnisoffenen Charakter.
Weitere Programmpunkte orientierten sich am Standort bzw. den Gegebenheiten, z.B. eine Freistatt-Erkundung, die Moorbahnfahrt oder der Besuch der Freistatt-Ausstellung zur Heimerziehung. Andere Programmpunkte hatten bewusst den Anspruch von gemeinsamer Kultur- und Freizeiterfahrung, wie Konzerte, Grillen, Lagerfeuer, eine Siebdruckwerkstatt und die Abschlussparty.
Sowohl die Bibelarbeit als auch die Abschlussandacht waren eine Referenz an die religiöse Orientierung des Projektantragstellers, entsprach aber auch den Wünschen einiger Teilnehmender. Wenige Tage vor Beginn des Treffens wurde daraus – ergänzt durch einige wenige organisatorische Hinweise – ein Programmheft erstellt, das allen Teilnehmenden ausgehändigt wurde.
Teilnehmende
Die Auswertung der auf dem Wohnungslosentreffen Sommercamp Freistatt 2016 registrierten Teilnehmenden zeigt: An dem Treffen nahmen 80 wohnungslose und ehemals wohnungslose Menschen teil. Von diesen 80 Teilnehmenden kamen 70 aus Deutschland (88%) 2 aus Österreich (3%), 3 aus Dänemark (4%) 2 aus den Niederlanden (3%), 2 aus Finnland (3%) und eine Person aus Irland (1%). Diese Teilnehmer_innenstruktur ergibt sich aus dem Umstand, dass Vertreter_innen des Europäischen Netzwerkes HOPE gezielt zu dem Wohnungslosentreffen Freistatt eingeladen worden waren.
Die 70 Teilnehmenden aus Deutschland verteilten sich entsprechend ihrer Herkunft wie folgt: 42 Menschen kamen aus Niedersachsen (60%), 15 aus Nordrhein-Westfalen (21%), 6 aus Berlin (9%), 2 aus Brandenburg (3%), jeweils ein_e Teilnehmende_r aus Hamburg (1%), Baden-Württemberg (1%), Hessen
(1%) und Sachsen (1%).
Zu den Teilnehmenden gehörten sowohl Menschen, die auf der Straße leben als auch Menschen, die Kontakt zu Wohnungslosentagesstätten haben, aber auch Menschen, die in der Wohnungslosenhilfe untergebracht sind sowie ehemals wohnungslose Menschen.
Für die Gesamtgruppe der Teilnehmenden kann eingeschätzt werden, dass etwa ein Drittel der Teilnehmenden motiviert war, inhaltlich am Thema Teilhabe, Selbstorganisation und Vernetzung zu arbeiten. Ein weiteres Drittel der Teilnehmer zeigte sich diesem Anliegen gegenüber interessiert und ein weiteres Drittel nutzte das Angebot mehr oder weniger zur Erholung.
Die durchgehend positiven Erfahrungen der Teilnehmer_innen auf dem Wohnungslosentreffen werden voraussichtlich zu einem Schneeballeffekt führen, sodass für 2017 mit einer deutlich höheren Zahl von interessierten Menschen gerechnet werden muss. Und nahezu alle, die auf dem Treffen 2016 dabei waren, haben schon signalisiert, dass sie 2017 „auf jeden Fall“ dabei sein wollen.
Ergebnisse/Abschlusserklärung
Ein inhaltlicher Meilenstein auf dem Wohnungslosentreffen Freistatt 2016 war die gemeinsame Erarbeitung einer Abschlusserklärung. Mehr als 20 Teilnehmende beteiligten sich am Freitagnachmittag an dieser Arbeit. Ein auf einem Computer geöffnetes, vollkommen leeres Dokument wurde mit Hilfe eines Beamers an die Wand projiziert und auf Zuruf wurden Formulierungen und Stichworte notiert, sortiert und verändert. Satz für Satz wurde um Formulierungen gerungen. Das leitende Kriterium dabei war, ob die Formulierung mit dem Erlebten und der eigenen Wahrnehmung übereinstimmt. Ein Entwurf lag nach gut anderthalb Stunden gemeinsamer Arbeit vor und wurde während der Abendstunden gedruckt und ausgeteilt. Am nächsten Vormittag wurde es nochmals in der offenen Arbeitsgruppe Abschlusserklärung gemeinsam durchgesprochen und mit wenigen Änderungen verabschiedet.
Die Vorstellung der Abschlusserklärung erfolgte dann am Samstagmittag in einer bereits im Programm vorgesehenen Presseerklärung durch 3 Teilnehmende. In dem daran anschließenden Pressegespräch griffen einige Teilnehmer zum Mikrofon und gaben zum Teil sehr persönliche und berührende Statements zu ihren
Erfahrungen auf dem Treffen ab. Aufgrund seiner Bedeutung ist die Abschlusserklärung hier vollständig dokumentiert:
ABSCHLUSSERKLÄRUNG DES WOHNUNGLOSENTREFFENS 2016 in Freistatt:
Wir als Teilnehmerinnen möchten Folgendes festhalten:
- Wir wurden respektvoll und freundlich aufgenommen. Das war ein anderer Umgang im Vergleich zu dem, was wir sonst üblicherweise erleben.
- Wir kannten uns vorher nicht oder nur wenig und konnten uns hier in Freistatt erstmals auf einer anderen Ebene begegnen, austauschen und gemeinsame Anknüpfungspunkte finden. Ein Gemeinschaftsgefühl ist entstanden und verbindet für die Zukunft. Wir konnten feststellen, dass wir untereinander auftretende Konflikte aushalten und Gegensätze akzeptieren können.
- Es war sowohl Zeit für die Teilnahme und Mitarbeit an den umfangreichen Programmangeboten, aber auch genügend Raum für Gespräche, Freizeit, Entspannung und Erholung. Alles gehörte dazu, um ein Miteinander zu finden.
- Die Workshopinhalte empfanden wir als vielfältig, anregend und anspruchsvoll. Wir haben uns mit Themen befasst, die uns unmittelbar betreffen und mit der Veränderung der Welt. Themen waren u.a. Hartz IV Sanktionen, Wohnungslosenhilfe, Selbsthilfe, Diskriminierung, Sucht, Reichtum und Armut, das Leben mit und ohne Gott, Politik, Europäische Zusammenarbeit und persönliche Situationen.
- Auf dem Sommercamp haben sich das Armutsnetzwerk e. V. und das europäische Netzwerk HOPE (HOmeless PEople) zu Mitgliederversammlungen getroffen.
Das Armutsnetzwerk informierte über seine Arbeitsweise, stellte die App „Pro-Berber“ vor, und wählte einen neuen Vorstand. Das internationale Gremium von HOPE befasste sich in ihrer General Assembly mit ihren Statuten, in HotSpots mit BestPractices der Teilhabe und dem Gegensatz und der individuellen Definition von Armut und Reichtum. - Der plötzliche Tod des Teilnehmers Thomas Schmidt durch einen Herzinfarkt hat sehr viel Betroffenheit unter uns ausgelöst. Bei der Trauerandacht in der Moorkirche fand Pastor Sundermann passende Worte für unsere Gefühlslage.
- Das Sommercamp bot uns teilnehmenden Frauen und Männern einen geschützten Rahmen. Wir haben Gemeinschaft gelebt. Gruppen haben sich gefunden, um eigene Interessen zu erkennen und zu formulieren.
- Wir wollen uns in einem kleineren Rahmen Anfang November 2016 erneut in Freistatt treffen, um das diesjährige Sommercamp und die erste Arbeitsphase der Gruppen auszuwerten.
- Wir werden die Idee von Teilhabe und Selbstorganisation aufgreifen und zu unserer eigenen machen. Wir wollen die weiteren Planungen in unsere eigenen Hände nehmen.
- Wir laden deutschland- und europaweit alle unbedachten und besitzlosen Frauen und Männer ein, beim nächsten Wohnungslosentreffen im Sommer 2017 teilzunehmen.
Wir machen einen Anfang.
Wir wollen der Würde eine Stimme geben.
Freistatt, Niedersachsen, 30. Juli 2016
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Wohnungslosentreffens Sommercamp Freistatt 2016
Weitere Ergebnisse und Ausblick
Darüber hinaus kann folgendes an Ergebnissen festgehalten werden: Es ist gelungen, durch das Wohnungslosentreffen Freistatt 2016 insgesamt 80 Menschen zu erreichen. Es war möglich, daraus mehr als 25 Personen zu mobilisieren, die an einer Weiterarbeit interessiert sind. Die erreichten Teilnehmer repräsentieren zum Teil auch Gruppen bzw. die Möglichkeit einer Gruppenbildung. Dieser Prozess ist allerdings nicht abgeschlossen, neue Einzelpersonen sind bereits hinzugekommen, weitere könnten und sollen angesprochen werden.
Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe sind hierbei wichtige Multiplikator_innen und tatsächlich kamen viele Kontakte zu den Projektteilnehmenden über Einrichtungen zu Stande, die in einzelnen Fällen auch telefonisch Kontakt aufnahmen oder aber wohnungslose Menschen durch Vorfinanzierung einer Fahrkarte die Teilnahme am Treffen in Freistatt ermöglichten. Auf der anderen Seite verhinderten Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe die Information Wohnungsloser, etwa wenn zugesandte Plakate nicht aufgehängt oder Emails mit der Bitte um Weiterleitung an wohnungslose Gäste der Einrichtung nicht weiter geleitet wurden. Nur in den seltensten Fällen war im Kontext der Mobilisierung ein direkter Kontakt zu wohnungslosen Menschen möglich. Die Homepages der Einrichtungen weisen in der Regel nicht auf eine Besucher- oder Bewohnervertretung hin, selbst wenn eine solche vorhanden ist, was die direkte Kontaktaufnahme zusätzlich erschwert.
Im Rahmen einer weiteren Zielstellung, einen repräsentativen Anteil von Frauen zu erreichen, wurde auch versucht, über die AG Frauen in der BAG-Wohnungslosenhilfe Informationen über das Sommercamp zu verbreiten. Hier kam es zu verschiedenen Kommunikationsschwierigkeiten und Missverständnissen. 14 Frauen hatten schließlich am Wohnungslosentreffen teilgenommen, was einem Anteil von 18 Prozent an der Gesamtgruppe entspricht. Damit der Anteil im kommenden Jahr noch höher ist, müssen eventuelle Missverständnisse oder Kommunikationshürden frühzeitig ausgeräumt werden.
Es gibt ein offensichtliches Bedürfnis nach einem vertieften gegenseitigen Kennenlernen, wobei hier Teilnehmende, die aus Einrichtungen kommen bzw. sich in Einrichtungen treffen, Vorteile haben gegenüber den Teilnehmer_innen, die diesen institutionellen Rückhalt nicht haben. Es kann angenommen werden, dass ein Bewusstsein über die Vielfalt der Lebenslagen in der Wohnungslosigkeit am Entstehen ist.
Die Idee, dass Wohnungslose zunehmend Verantwortung für das Projekt übernehmen, ist verstanden worden. Das wird deutlich an der engagierten Auswertung, die in Sondierungen mündet, die Fragen der Vorbereitung und der Organisation des nächsten Treffens betreffen sowie den Prozess allgemein.
Das Projekt ist seit dem Wohnungslosentreffen Freistatt 2016 in einigen Veranstaltungen und in unterschiedlichen Konstellationen kommuniziert worden. Weitere Termine sind in Vorbereitung bzw. in Planung. Damit verbreitert sich die öffentliche Wahrnehmung für den Prozess, der mit dem Projekt angestoßen wurde. Der große Erfolg des Wohnungslosentreffens Freistatt 2016 stellt die Frage nach erforderlichen Kapazitäten künftiger Treffen bspw. der Küche sowie der sanitären Anlagen. Das limitierte Budget kann zu einer Begrenzung der Teilnehmendenzahl führen. Diskutiert wird nun, nach welchen Kriterien die Teilnehmer für 2017 ausgewählt werden sollen und damit verbunden perspektivische Fragen von Struktur und Organisationsform. Die Bildung von thematischen und regionalen Gruppen wird ebenfalls nun erstmals diskutiert.
Dringlich erscheinen weitere Qualifizierungen. Angebote von außen werden kritisch diskutiert und angenommen, aber auch aus der Gruppe heraus entstehen Ideen, die konkretisiert werden (Workshop Öffentlichkeitsarbeit). Pointiert diskutiert wird der Umstand, dass ein offensives „In-die-Öffentlichkeit-gehen“ bzw. ein Dialog mit der Politik erst auf Grundlage eines geklärten Selbstverständnisses und einer bestehenden Programmatik sinnvoll erfolgen kann. Wie lange dieser Prozess dauert, ist gegenwärtig noch nicht absehbar. In einer optimistischen Betrachtung könnte der Prozess der Selbstfindung auf dem nächsten Wohnungslosentreffen Freistatt 2017 vorläufig abgeschlossen werden und zugleich der Prozess der Entwicklung einer eigenen Programmatik erstmals ausführlicher diskutiert werden. Dann wäre eine hinreichende Basis dafür geschaffen, im weiteren Prozessverlauf Strukturen und Strategien zu besprechen.
Kontakt und weitere Informationen www.wohnungslosentreffen.de
Autor: Stefan Schneider
Anmerkung
1. Die Fokussierung auf den Begriff „Sommercamps“ erfolgte in der Absicht, das abstrakte Thema Beteiligung und Selbstorganisation mit einem bildlichen, attraktiven Begriff für die Adressaten interessant darzustellen und somit einen niedrigschwelligen Zugang zum Anliegen von Teilhabe und Selbstorganisation herzustellen. Aus methodischen Überlegungen heraus ist es von zentraler Bedeutung, eine „kritische Masse“ an Beteiligten sichtbar und erfahrbar werden zu lassen. Ganz offensichtlich haben wir bei der Planung des Projekts nicht hinreichend klar vorhergesehen, welche Irritationen diese Begrifflichkeit auslöst, da mit dem Begriff „Sommercamps“ auch assoziiert werden kann, es würde darum gehen, eine Urlaubsveranstaltung für Wohnungslose zu organisieren. Deshalb wird der Begriff „Sommercamps“ innerhalb des Projekts nicht mehr bzw. nur noch sehr zurückhaltend verwendet.